Die Voreiligkeit vieler Medien färbt ab

Erfordert Selbstständigkeit von naturwissenschaftlicher Warte aus andere Kompetenzen als aus geistes- oder sozialwissenschaftlicher Sicht? Diese und andere Fragen loteten wir mit Dr. Jeannine Wintzer aus. Sie ist ordentliche Dozentin am Geographischen Institut der Universität Bern.

1. November 2016

Was gehört in naturwissenschaftlichen Disziplinen zur geforderten Selbstständigkeit?

Hinsichtlich der Wissensproduktion folgen alle Disziplinen den Regeln eines analytisch-kritischen Vorgehens. Dazu braucht es erstens eine konkrete Forschungsfrage, zweitens eine klare theoretische Perspektive und  rittens geeignete Methoden, die uns Daten zum Forschungsgegenstand erheben und interpretieren lassen. Viertens ist es wichtig, eine kritisch reflektierende Forschungshaltung einzunehmen. Die Disziplinen unterscheiden sich immens in der Wahl ihrer theoretischen Konzepte und Methoden. So bedarf es in der physischen Geografie bei meteorologischen Fragestellungen anderer Herangehensweisen als in der Humangeografie, die das Meinungsbild einer spezifischen Gruppe erforscht.

Bringen erstsemestrige Studierende im Fach Geografie die gewünschte Flughöhe mit?

Das lässt sich nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Die Welt hat sich für Studierende stark verändert. Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Studierenden sind heute fühlbar höher, unter anderem bedingt durch die globale Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Ich stelle fest, dass die schnelllebigen Medien die Haltung von Studierenden beeinflussen. Im vom Online-Takt vorgegebenen Tempo produziert die Presse zu allem und jedem in kürzester Frist meist unzureichende Antworten, mag der Sachverhalt noch so komplex sein.

Wie wirkt sich das konkret auf die Studierenden aus?

Das Sitzleder, um an einer Frage dranzubleiben und sich nicht zu schnell mit oberflächlichen Ergebnissen zufriedenzugeben, ist bei Studienanfängern oft nicht ausgeprägt. Zudem bekunden Maturanden zum Teil Mühe damit, dass es an der Universität in der Regel nicht nur eine Wahrheit gibt. Komplexe Phänomene unserer Zeit lassen sich nicht «einfach» mit einem vorgegebenen Lösungsrezept beantworten. In diesem Sinne sollte der klassische voruniversitäre Schulbetrieb nicht zu stark auf die Reproduktion von Faktenwissen fokussieren. Wir stellen an die Studierenden die Anforderung, sich einer präzisen Fragestellung mit einer kontrollierten Methode zu widmen, damit das eigene Ergebnis für andere nachvollziehbar wird.

Die Maturaarbeit sollte eigentlich in diese Richtung gehen.

Ja, und es gibt Lehrpersonen, die genau darauf achten. Das Potenzial ist flächendeckend noch gross. Tatsächlich wissen viele Erstsemestrige nicht, wie sie korrekt zitieren oder verschiedene Expertenmeinungen abwägen und kommentieren sollen, um eine eigene Argumentation aufzubauen. Das ist zwar anspruchsvoll, aber elementar.

Begünstigen die Neuen Medien die akademische Selbstständigkeit eher oder schränken sie diese gar ein?

Wie angedeutet neigen gerade soziale Medien dazu, voreilig zu sein. Viele Studierende sind heute auf bequeme Lektüre konditioniert und zeigen wenig Interesse an klassischen Bibliotheken. Es ist zwar richtig, im Universitätsbetrieb mit der Zeit zu gehen und digitales Lernen unter Einbezug von Social Media als komplementäre Schiene zu nutzen. Unabhängig von den Lehrmaterialien muss aber jede und jeder Studierende am Ende des Tages bereit sein, die unausweichliche Schmerzgrenze des Lernens zu überwinden. Analytisches Lesen, kritisches Auswerten und das Formulieren einer qualifizierten Meinung: daran führt kein Weg vorbei, um als Autorin oder Autor niveaugerechte Texte zu verfassen. Dies sind insgesamt wichtige Voraussetzungen, um nach dem Studium im Privat- und Berufsleben eine gesellschaftstragende Rolle einzunehmen. Das ist das Ziel einer universitären Ausbildung.