Vielerorts trifft man auf die Meinung, Industrie 4.0 werde primär die Prozesse der industriellen Produktion und wahrscheinlich noch der folgenden Logistik beeinflussen. Computer optimieren die Fertigung, reduzieren den Mitteleinsatz und verkürzen die Produktionszeiten. Optimierte Logistik senkt die Beschaffungskosten, und der Vertrieb profitiert von kürzeren Lieferfristen.
Natürlich ist diese Seite der modernen Industrie nicht zu vernachlässigen, sie ist aber nur eine Ausprägung der aktuellen Digitalisierung. Der Einfluss von grossen Rechenleistungen, immensen Datenspeichern und der Kommunikation von intelligenten Maschinen mit vor- und nachgelagerten Prozessoren auf die Dienstleistungen und die Verwaltung eines Unternehmens werden geflissentlich übersehen. Wozu erfragt ein Call-Center detaillierte Informationen im Gespräch mit dem Kunden, wenn der defekte Kühlschrank sein Problem bereits gemeldet hat und das zu ersetzende Teil bereits in der Morgenroute des Servicetechnikers eingeplant ist – zusammen mit Reparaturanweisung, genauem Standort und Lieferavis? Wieso soll künftig der Fahrzeughalter eines Selfdrive-Fahrzeugs eine Haftpflichtversicherung abschliessen müssen, wenn er gar keinen Einfluss auf das Fahren seines Vehikels mehr hat?
Speicherkapazitäten, Rechenleistungen und intelligente Prozessoren erlauben Unternehmen in Medizin, Detailhandel, Industrie, Verwaltung, Banking und allen weiteren Dienstleistungen, die optimale Leistung bereitzustellen und ganz neue Wertschöpfungsketten oder -netzwerke zu schaffen. Vorgesetzte tragen nicht nur die Verantwortung für die Entwicklung und Gestaltung von Szenarien und Strategien für ihre Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen. Zukunftsfähige Führungskräfte setzen sich gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden auch mit den internen und externen Prozessen auseinander. Sie beteiligen die betroffenen Mitarbeitenden am Entwickeln neuer Netzwerke, an der Einführung digitaler Lösungen und an der Effizienzsteigerung des eigenen Handelns. Involvierte Mitarbeitende wissen, welche Kennzahlen künftig wichtig sind und welche Daten in welcher Form in den folgenden Prozessen benötigt werden. Sie sind es auch, die Verantwortung tragen und den nächsten Prozessschritt auslösen.
Es gilt, die digitale Zukunft aktiv und vorausschauend zu gestalten. Im komplexen System der globalisierten Märkte, bei permanenter Verfügbarkeit und immenser Transparenz muss die eigene Wettbewerbsposition gestärkt werden. Bisher taugliches, kontinuierliches Anpassen der Prozesse wird durch disruptive Technologien obsolet, und die von eigenen Mitarbeitern initiierten Verbesserungsvorschläge werden von einer globalen Verfügbarkeit des Neuesten überholt. Einsame Strategieentwicklung in der Chefetage ist somit passé.
Führung 4.0 setzt sich also nicht bloss mit den unternehmenspezifischen Herausforderungen auseinander. Sie kümmert sich um die Aktivierung aller Kompetenzen der Mitarbeitenden und entwickelt Visionen, Strategien und Szenarien, die der Komplexität aller Rahmenbedingungen Rechnung trägt – auch wenn diese sich permanent verändern. Digital affine Vorgesetzte beachten mit ihren Mitarbeitenden die notwendigen Schulungen, das Installieren der richtigen Prozesse und die Steuerung der kommunizierenden Systeme. Führung 4.0 verschiebt das Verhältnis von der Aufgabe hin zu Kompetenz und Verantwortung.