Schon 1932, das heisst vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, zählte die Vorläuferorganisation der Hitlerjugend rund 110’000 Mitglieder, ein Viertel davon Mädchen. Unmittelbar vor Kriegsausbruch und noch vor dem Obligatorium mitzumachen, war die Zahl auf das Achtzigfache – auf über 8 Millionen Mitglieder – explodiert. Davon waren weit über ein Drittel Mädchen.
Nichts Aussergewöhnliches
Junge FDP, Junge SP oder welche Partei auch immer: Heute öffnet sich das Tor zum eigenen politischen Engagement in der Regel erst ab dem frühen Erwachsenenalter. Politisch gefärbte Kinderbetreuung bereits im Einschulungsalter wirkt auf uns nicht nur exotisch, sondern vor allem suspekt. Im Deutschland der Zwischenkriegszeit war das indessen nichts Aussergewöhnliches, wie Erika Vogel erläutert: «Viele Parteien wandten sich bereits an 10-Jährige. So gab es zum Beispiel auch die Roten Falken, wie der Name erahnen lässt, eine Organisation aus der linken Ecke.» Die Radikalisierung gegen Ende der Weimarer Republik liess es somit als «normal» erscheinen, dass Eltern ihre Sprösslinge je nach politischer Couleur der ihnen nahe stehenden Partei in Obhut gaben, zumal damit weitere Vorteile verbunden waren.
Extrem raffiniert
Die Vorzüge waren durchaus auch materieller Natur. Annina Walser skizziert die damalige Situation so: «Nach der Hyperinflation Anfang der 20er-Jahre und der Massenarbeitslosigkeit im Schlepptau der Weltwirtschaftskrise – diese traf Deutschland vehement – mangelte es in vielen Familien am Nötigsten.» Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum viele Eltern froh waren, dass ihr Nachwuchs nicht herumlungerte, mit vollem Bauch nach Hause kam und – Uniform sei Dank – sich nicht abgewetzter Kleidung zu schämen brauchte. Und für die Kinder und Jugendlichen von damals? Die hatten zunächst einmal Spass. Baldur von Schirach, der von Hitler 1931 berufene Reichsjugendführer, liess – vordergründig – die Jugendlichen sich selbst organisieren. Sie erhielten einen Freiraum, wo Erwachsene angeblich nichts zu sagen hatten. Wer Pippi Langstrumpf kennt, weiss, wie verlockend ein solches Angebot ist. Zudem differenzierte von Schirach dieses
Angebot «zielgruppengerecht»: Für den Dreikäsehoch gab es die Kindergruppen des Deutschen Frauenbundes, die Halbwüchsigen konnten sich als Pimpfe hervortun und ab 14 gehörte man als Mädel und somit als Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädel) oder als Hitlerjunge zur Peergroup. Ihnen allen wurde gekonnt suggeriert, etwas ganz Besonderes zu sein. Dass das Regime die Schraube immer mehr anzog und das Zuckerbrot peu à peu durch die Peitsche ersetzte, geschah schleichend. Man erinnere sich an den Frosch, der beim langsamen Anstieg der Temperatur nicht merkt, dass er in eine gefährliche Lage kommt.
Kritisch denken reicht nicht
Die Faust im Samthandschuh, man konnte sie kaum erkennen. Als der Handschuh weg war, war es zu spät. Retrospektiv lässt sich aus Sicht von Annina Walser, selbst zweifache Mutter, ein Punkt ausmachen, an dem Skepsis in Ablehnung hätte kippen müssen: «Die Kinder wurden immer unverhohlener dazu angehalten, Andersdenkende, auch Verwandte, zu denunzieren. Wenn der Sohn oder die Tochter zu Hause so etwas auch nur andeuten, müssten doch alle Alarmglocken läuten.» Doch es verhielt sich eben wie mit dem Frosch im immer heisser werdenden Wasser. Erika Vogel verweist auf einen weiteren zentralen Aspekt: «Es reicht kaum, selbst kritisch denken zu können. Es braucht auch den Mut, Einwände offen vorzubringen.» In einem System, in dem man damit bereits wenige Monate nach der Machtergreifung 1933 Kopf und Kragen riskierte, faktisch ein Ding der Unmöglichkeit.