Multilateralismus in der heutigen Geopolitik

In der Politik spricht man von Multilateralismus, wenn mindestens drei Regierungen in einer bestimmten Angelegenheit gleichberechtigt zusammenarbeiten oder ein grenzüberschreitendes Problem lösen. Er steht im Gegensatz zur unkoordinierten Politik eines einzelnen Staats (Unilateralismus) und zur Politikkoordination zwischen lediglich zwei Staaten (Bilateralismus).

Christophe Lienert

23. Mai 2023

Erklärung des Begriffs

Multilateralismus bezeichnet die Organisation von Prozessen und Beziehungen zwischen drei oder mehr Staaten. Er basiert auf bestimmten Regeln und Prinzipien, welche charakteristisch sind für multilaterale Institutionen. Es sind westlich geprägte, liberale Regeln, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind und sich auf die Errichtung und den Schutz freiheitlicher Demokratien, des Freihandels und der Vorherrschaft des Rechts beziehen. Der Multilateralismus hat eine lange Geschichte. Er ist vor allem in den von den USA angeführten multilateralen Vereinbarungen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg verwurzelt.

Geopolitische Akteure und Netzwerke

Viele Länder, die dem Multilateralismus verpflichtet sind, wirken in multilateralen Institutionen mit und koordinieren ihre internationalen Aktivitäten über solche Institutionen und Netzwerke. Grob können sie in überstaatliche Organisationen wie die Vereinten Nationen (mit ihren unzähligen Unterorganisationen wie z. B. der UNICEF), internationale Finanzierungsinstitutionen wie die Weltbank sowie globale Fonds und Netzwerke wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz unterteilt werden.

Die Welthandelsorganisation (World Trade Organization WTO) oder auch Sicherheitsbündnisse wie die Nordatlantikpakt-Organisation (North Atlantic Treaty Organization NATO) sind andere wichtige Akteure der multilateralen Zusammenarbeit. Im Bereich Umwelt gibt es unzählige multilateral verhandelte Vereinbarungen. Dazu gehören beispielsweise das Kyoto-Protokoll von 1997 (Reduktion von Treibhausgasen) oder das Pariser Klima-Abkommen von 2015 (Halten des globalen Temperaturanstiegs unter 2°C).

Alle diese und weitere multilaterale Organisationen stützen sich auf eine breite Mitgliedschaft, sind politisch (mehr oder weniger) neutral, verfügen über Kapital und umfassendes Fachwissen. Multilaterale Institutionen realisieren in Entwicklungsländern Programme und koordinieren dabei die Leistungen verschiedener «Geberländer», also von Ländern, die aktiv mit finanziellen Mitteln und Know-how die Empfänger («Nehmerländer») unterstützen.

Bewältigung globaler Herausforderungen

Die Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen ermöglicht es Ländern wie der Schweiz, ihre Positionen und Erfahrungen in die internationale Politik einzubringen und gleichzeitig ihre Interessen auf der internationalen Bühne zu vertreten. Die Schweiz setzt sich für ein starkes multilaterales System ein und arbeitet hierfür insbesondere mit UNO-Organisationen und internationalen Finanzierungsinstitutionen zusammen.

Denn es sind globale Herausforderungen wie Klimawandel, Gesundheitskrisen oder Nahrungsmittelknappheit, welche die nachhaltige Entwicklung hemmen. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es gemeinsamer Lösungen und eines koordinierten Vorgehens der internationalen Staatengemeinschaft. Die von der Schweizer Aussenpolitik unterstützten multilateralen Organisationen leisten mit ihrer langjährigen Erfahrung und ihren beträchtlichen Ressourcen einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der «Sustainable Development Goals» der UNO, der Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Krise des Multilateralismus?

Für viele Beobachterinnen und Beobachter befindet sich die multilaterale Weltordnung jedoch seit Jahren in einer Krise. Diese ist einerseits auf den Wandel des internationalen Systems und auf eine neue Multipolarität sowie globale Machtverschiebungen zurückzuführen. Neben dem politischen Westen entstehen neue Machtzentren, und diese fordern ein stärkeres Mitgestaltungsrecht ein. China ist hierfür ein gutes Beispiel: Das Land tritt als globale Führungsmacht mit eigenen Spielregeln auf.

Gleichzeitig schreitet seit Jahren die Aushöhlung von internationalen Verträgen und Regelwerken und somit auch eine Schwächung der Zusammenarbeit auf internationaler Ebene voran. Die USA haben sich aus zahlreichen internationalen Übereinkommen zurückgezogen, so z. B. aus dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) oder dem Pariser Klimaabkommen. Zugleich häufen sich völkerrechtliche Verstösse, insbesondere durch Russland und China, und Protektionismus sowie isolationistische Tendenzen nehmen zu.

Neben den bewährten Formen des Multilateralismus entstehen seit Längerem neue Formen der internationalen Zusammenarbeit. Dazu gehören zeitlich begrenzte Kooperationen sowie informelle Kooperations- und Abstimmungsmechanismen wie die Gruppe der 7 bzw. 20 wirtschaftlich stärksten Staaten (G7 bzw. G20). Man spricht hierbei auch von Club Governance. Zudem steigt die Bedeutung nichtstaatlicher Akteure in der internationalen Politik, wie zum Beispiel privater Stiftungen, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen oder Medien.