Das Konzept des digitalen Zwillings wurde erstmals 2010 im Rahmen einer Technologie-Roadmap der amerikanischen National Aeronautics and Space Administration (NASA) aufgebracht. Es geht zurück auf das Apollo-Programm 1968–1972, in dessen Rahmen mehrere identische Raumfahrzeuge entwickelt wurden, um verschiedene Bedingungen während der Mission wiedergeben zu können.
Das Konzept ist seither und insbesondere ab 2010 stark weiterentwickelt worden. Im Wesentlichen geht es darum, ein physisches Objekt bei seiner Entwicklung genauestens auf seine Performanz, Tüchtigkeit oder Ausfallsicherheit zu untersuchen. Als Beispiel kann ein so komplexes Objekt wie die Düse eines Flugzeugs dienen, aber auch der Bau einer Brücke oder die Erstellung von Stromnetzen.
Anwendungsfälle und Abgrenzung
Im Entwicklungs- oder auch im Bau- oder Produktionsprozess wird das physische Objekt an kritischen Stellen mit Messinstrumenten und Sensoren ausgerüstet, die sehr viele Daten über dessen Leistungsfähigkeit liefern – räumlich und zeitlich hochaufgelöst und in Echtzeit. Dazu gehören bei der Flugzeugdüse beispielsweise der Energieausstoss oder die Lufttemperatur. Die Daten werden dann übermittelt an das virtuelle Modell, also an die digitale Zwillingsdüse. Dort werden verschiedenste Simulationen derart ausgeführt, dass sie Erkenntnisse für mögliche Verbesserungen generieren. Die in der digitalen Umgebung resultierenden Verbesserungen werden dann – wieder in Echtzeit – zum physischen Ursprungsobjekt, also der physischen Düse, zurückgespielt.
Der entscheidende Unterschied zwischen einem digitalen Zwilling und z. B. einer Simulation oder einem digitalen Mock-up ist die Kopplung. Bei einer Simulation werden – entkoppelt – gewisse Eigenschaften rechnergestützt nachgebildet und wiedergegeben. Das reale und das digitale Objekt sind nicht mit einem Echtzeit-Datenfluss verbunden, was ein Muss-Kriterium für einen digitalen Zwilling ist. Ein anderes Abgrenzungsmerkmal ist die Grösse und Komplexität. In einem digital twin werden in der Regel mehrere (gleichzeitige und miteinander verbundene) Simulationen ausgeführt, während in einer Simulation lediglich ein Prozess untersucht wird.
Digital twins in der Industrie und ihr konkreter Nutzen
Auch wenn der digitale Zwilling bei der Entwicklung und Produktion von Objekten und Prozessen bedeutende Erkenntnisse und (Wettbewerbs-)vorteile bringt, ist nicht jedes physische Objekt komplex genug, um den intensiven Einsatz von Sensoren, Daten und Modellen zu rechtfertigen. Letztlich ist der Einsatz eines digital twins auch eine Kostenfrage.
Digital twins können aber während aller Phasen des Produktlebenszyklus Nutzen stiften. Ein Hauptnutzen liegt darin, dass mit ihnen in Echtzeit Grundlagen zur Verfügung gestellt werden, ob ein Produkt, Prozess oder eine Strategie weiterverfolgt werden soll und wo allfällige Fehler oder Mängel liegen.
So können Wechselwirkungen zwischen Software und Konstruktionen überprüft oder in der Produktion die Auftragsplanung und -steuerung verbessert und damit teure Durchlaufzeiten verkürzt werden. Weitere Beispiele sind die Optimierung von Materialflüssen und Lagerverwaltungen oder der vorausschauende Unterhalt von Maschinen und Anlagen, um Schäden und Betriebsausfälle zu vermeiden. Digitale Zwillinge werden auch im medizinischen Bereich eingesetzt, beispielsweise um Operationen zu planen oder die Risiken unterschiedlicher Medikamente zu erproben. Auch die Fertigung von Produkten vom Design bis hin zur ihrer Marktfähigkeit, die Effizienzsteigerung der Produktion in der Automobilindustrie sowie Unterstützung von 3D-Echtzeit-Informationssystemen in der Stadtplanung sind konkrete Beispiele von digital twins in der Industrie.
Künftige Entwicklungen
Digitale Zwillinge werden künftig vermehrt eingesetzt werden, um die immer grösser, schneller und unübersichtlicher werdenden Ströme von Betriebs- und Produktionsdaten zum Vorteil des Unternehmens oder der Organisation zu nutzen. Damit steigern sie die Effizienz und helfen, Fehler zu vermeiden. Vor allem in vermögensintensiven Industrien führen sie zu tiefgreifenden Veränderungen in den Betriebsmodellen, da sie eine integrierte – d. h. physische und digitale – Sichtweise auf Objekte, Einrichtungen, Anlagen und Prozesse erfordern.
Es ist selbstredend, dass diese datenintensiven digital twins auch weitreichende Themen wie Datenschutz, Privatsphäre und Cybersicherheit tangieren. Viele digitale Zwillinge sind nur möglich durch ein ausgiebiges Tracking von Sensordaten und Bewegungen. Früher oder später wird dies den Gesetzgeber auf den Plan rufen. Unternehmen werden diesbezüglich verstärkt mit ihm zusammenarbeiten müssen.