Heilsames Waterloo

Retrospektiv erweist es sich bisweilen als Glücksfall, wenn ein Vorhaben nicht auf Anhieb gelingt. Alicia Furrer ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein zweiter Anlauf für eine Berufsmaturität insbesondere zur Profilanpassung nutzen lässt. Sie entdeckte so ihre Neigung für soziale Berufsfelder.

7. Juni 2018

«Wir waren offen gestanden nicht nur eine kindliche, sondern eine kindische Klasse», erinnert sich Alicia Furrer mit waschechtem Walliser Dialekt an die Vorbereitungen auf die Berufsmaturität nach ihrer KV-Lehre. Dass man das Ganze dann doch nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, offenbarte das ernüchternde Zwischenzeugnis. «Ein Notenbild mit übler Schlagseite; mir kam die Titanic in den Sinn.» Zunächst versuchte Alicia Furrer noch, das Steuer herumzureissen, gestand sich aber bald ein: Für diesen ersten Versuch waren Hopfen und Malz verloren. Sie gab Forfait.

Weder Zeit verlieren noch ewig studieren

Immerhin, das EFZ als junge Kauffrau hielt sie in den Händen. Und das Waterloo einer nicht geschafften BM geriet zur heilsamen Zäsur. Durch sie erhielt Alicia Furrer neue Impulse. Ihr bisheriges wirtschaftliches Arbeitsumfeld bei einem Treuhandbüro mit spärlichen direkten Kundenkontakten war nicht das, was sie aufblühen liess. So hielt sie nach Alternativen Ausschau. «Ich hätte mich an und für sich auch für Psychologie interessiert», meint Alicia Furrer. Doch das hätte bedeutet, zunächst die Matura sowie den Numerus clausus als Zulassungshürden zu bestehen und dann ein fast ewig scheinendes Studium in Kauf zu nehmen. Ebenso wenig wollte sie weiter Zeit verschwenden. Ein Vorpraktikum in einem Pflegezentrum wies ihr den Weg in den sozialen Bereich: «Nun wollte ich auch mit Blick auf ein Bachelorstudium bald Nägel mit Köpfen machen. Die BM an der AKAD Bern war mein Schlüssel dazu.» Alicia Furrer konnte gleichzeitig mit einem 60-Prozent-Pensum in ihrem Spiezer Pflegezentrum bleiben, wo sie sich bis heute um eine vielseitige Alltagsgestaltung für die Bewohnerinnen und Bewohner kümmert.

Prioritäten setzen

«Einmal ist keinmal … beim zweiten Mal wird es klappen» – mit diesem Gedanken im Kopf setzte sich Alicia Furrer einem gewissen Selbstdruck aus und machte sich an den zweiten Anlauf für die BM: «Schon als das erste Paket mit den AKAD Lernheften eintraf, nahm ich die Sache ernst und arbeitete zielstrebig auf den Abschluss hin.» Ganz nach dem Motto also «Genie ist Fleiss»? «Nein, ich würde es eher ein pragmatisches Setzen von Prioritäten nennen. » Mathe sei und bleibe ein Fach, in dem sie nie ein Hirsch sein werde. «Da ich mir dort aufgrund meiner anderen Noten eine 1,5 hätte leisten können, investierte ich in die Fächer, in denen meine Stärken liegen.» Wirtschaft gehörte aufgrund ihrer Lehre dazu. In Deutsch und Französisch konnte sie dank der Zweisprachigkeit in ihrem Walliser Umfeld ebenfalls aus dem Vollen schöpfen. Entgegen kam ihr ein Naturell, wie man es von Fernsehmoderatoren kennt: Einmal auf Sendung, sprich im Prüfungsmodus, bewahrt sie einen kühlen Kopf.

Künftig im Justizvollzug?

Mittlerweile ist Alicia Furrer in ihr Studium für soziale Arbeit an der Fachhochschule Bern eingetaucht. Donnerstags und freitags drückt sie dort die Schulbank. Ihren Lebensunterhalt verdient sie weiterhin in Spiez. Der Umgang mit betagten Menschen gefällt ihr: «Ich erlebe dabei täglich, mit wie wenig man anderen viel Freude bereiten kann. In Branchen ausserhalb des Sozialbereichs und im Leben generell geht das oft vergessen», hält sie fest. Auch nach ihrem Bachelorstudium ist ein Engagement für Menschen ihr Ziel. Stichwort: Resozialisierung. Um herauszufinden, ob ihr dies zusagt, möchte sie ein Praktikum im Frauengefängnis Thorberg absolvieren. Eine therapeutische Tätigkeit für Häftlinge wird allerdings nicht nur Sonnenseiten haben. «Ja, da stehen die Herausforderungen im Vordergrund», meint Alicia Furrer, «denn es geht oft um Menschen mit schwierigen Persönlichkeiten und ‹verkachelten› Biografien. Aber Resozialisierung ist eine Aufgabe,
der wir uns als Gesellschaft zu stellen haben. Das reizt mich.»