Nachhaltige Ernährung: urbane Initiativen

Solidarische Landwirtschaft und Urban Gardening krempeln das Ernährungssystem um und weisen Wege zu einer zukunftsfähigen Lebensmittelversorgung.

Raphaela Haenggi

25. Februar 2022

Gemeinsames Wirtschaften

Gemüse selbst anbauen, gemeinsam ernten oder sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzen – die zivilgesellschaftlichen Initiativen im Ernährungsbereich sind vielfältig. Insbesondere im urbanen Raum nehmen Menschen ihre Versorgung vermehrt wieder selbst in die Hand. Sie pflanzen an, sie teilen, und sie gründen Gemeinschaftsgärten, weil sie sich nicht länger auf die Rolle der Konsumentin und des Konsumenten beschränken wollen. Sie erproben neue Formen der Lebensmittelversorgung, die sich stärker am Wohl der Gemeinschaft orientieren. Deren Fokus liegt nicht primär auf wirtschaftlichem Wachstum und Massenproduktion («food from nowhere»), sondern setzt stärker auf Ressourcenschutz und eine weitgehend nahräumliche Versorgung mit den Lebensmitteln des täglichen Bedarfs («food from somewhere»).

Von solidarischer Landwirtschaft bis zu essbaren Städten

Inzwischen gibt es ganz unterschiedlich grosse und verschieden ausgestaltete Initiativen und Aktionen. Allen gemeinsam ist die Co-Produktion, also eine aktive und verantwortungsvolle Beteiligung der Konsumentinnen und Konsumenten an der Lebensmittelproduktion. Solidarische Landwirtschaft basiert beispielsweise auf der direkten Zusammenarbeit zwischen Produzentinnen und Konsumenten. Sie ist ein Weg zur Erhaltung kleiner Biobetriebe, indem Höfe Verbrauchergemeinschaften eingehen. Es gibt keine fixen Produktpreise, dafür wird die Produktion direkt durch die Konsumentinnen und Konsumenten über Betriebsbeiträge oder Flächenpauschalen finanziert, welche die vollen Produktionskosten decken. Dahinter steht der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft. Bei Urban Gardening wird auf städtischen Brachflächen in Hochbeeten oder Blumenkästen Obst und Gemüse angebaut. Es geht dabei nicht nur um Selbstversorgung, sondern um eine neue Stadt- und Lebenskultur und die Idee einer Gesellschaft, deren Mitglieder voneinander lernen und ihr Wissen austauschen.

Die «essbaren Städte» sind ein weiteres Beispiel für lokale Wirtschaftskreisläufe, die eine Fremdversorgung durch Industrieprodukte in Teilen überflüssig macht. Vorbilder dazu sind etwa Andernach in Deutschland oder Todmorden im Nordwesten Englands. Dort begannen die beiden «Incredible Edible»-Gründerinnen Pam Warhurst und Mary Clear vor knapp 15 Jahren, ihre Vision einer essbaren Stadt voller Gemüse- und Obstgärten umzusetzen. Die Aktion sollte globale Herausforderungen wie den Klimawandel lokal angehen. Dafür legten sie zunächst auf öffentlichem Grund und ohne Erlaubnis kleine Gärten und Beete an. Dieses «Guerilla Gardening» war schnell so erfolgreich, dass plötzlich überall in der Stadt richtige Gärten entstanden: vor dem Bahnhof, an Schulen und vor Altersheimen. Später ermöglichte «Incredible Edible» den Aufbau diverser Programme zur Förderung der lokalen Landwirtschaft. Wissenschaftler stellten fest, dass sich in Todmorden durch die veränderte Wahrnehmung des öffentlichen Raums auch die Beziehung der Bewohnerinnen und Bewohner zur Umwelt positiv veränderte. Das Projekt förderte nicht nur eine unabhängigere Lebensmittelversorgung, sondern auch ein besseres Sozialverhalten und ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl.

Chancen und Herausforderungen

Die neuen Ernährungsinitiativen sind für Konsumentinnen und Konsumenten eine Chance, einen achtsameren Umgang mit Lebensmitteln zu lernen und deren Produktion aktiv mitzugestalten. Mit ihrem «Bottom-up»-Ansatz geben sie die Verantwortung an die Bürgerinnen und Bürger zurück und befähigen diese, die Bedingungen für die Lebensmittelherstellung mitzugestalten. Die klassische Ernährungspraxis wird von Grund auf transformiert und die Beziehungen zwischen Erzeugenden und Verbrauchenden komplett neu gedacht. Voraussetzung sind aber eine Reihe engagierter Bürgerinnen und Bürger, die über einen längeren Zeitraum genügend motiviert sind, sich für die gemeinsamen Ziele einzusetzen und für eine positive Veränderung einzustehen.