Vorkenntnisse spielen eine zentrale Rolle

Ein von den Dozierenden gelebter «Mut zur Lücke» ist für den Lernerfolg der Studierenden nicht hinderlich, sondern unabdingbar. Aber bei aller Priorisierung und Straffung der zu vermittelnden Stoffe: Ums Üben kommt niemand herum. Ein Interview mit Professor Martin Lehner, dem Leiter des Departments Entrepreneurship & Communications, der sich am Technikum Wien auch um die Didaktik kümmert.

9. November 2018

«Erklären und Verstehen» lautet der Titel Ihres neuen Buchs. Da liegt ein gedanklicher Brückenschlag zu Ihrem ersten Werk auf der Hand: Wer als Lehrperson in der Lage ist, gut zu erklären, und wer als studierende Person in der Lage ist, richtig zu verstehen, wird viel Stoff in wenig Zeit vermitteln bzw. verinnerlichen können. Wenden Sie sich im neuen Buch bewusst an beide Seiten?

Durchaus. Einen Aspekt möchte ich in diesem Zusammenhang betonen: Die geschickte Auswahl und die gekonnte Erklärung eines Inhalts durch die Lehrperson entbindet Studierende nicht, sich selbst intensiv mit dem Stoff zu befassen. Bisweilen stellt sich im Moment des Verstehens – verständlicherweise – eine euphorische Stimmung ein. «Ich habs gecheckt – Ende gut, alles gut.» Doch das ist voreilig. Bis eine Materie wirklich sitzt, sprich individuell reproduzierbar und anwendbar ist, braucht es eine persönliche Auseinandersetzung. Richtiges Verstehen geht regelmässig damit einher, selbst Position zu beziehen und damit eine vorgeschlagene Struktur durch die eigene Reflexion weiterzuentwickeln.

Die erste Auflage von «Viel Stoff – wenig Zeit» erschien 2006. Was hat sich mit Blick auf das Stoffmengenproblem und dessen Bewältigung seither getan?

Mittlerweile ist das Bewusstsein für die Vollständigkeitsfalle in den Köpfen der Lehrpersonen angekommen. «Ich muss nicht alles vermitteln, was ich weiss»; diese Haltung hat sich etabliert. Einen etwas ambivalenten Einfluss hat der Vormarsch der Neuen Medien. Wer heute Unterricht plant, hat ganz andere Auswahl- und Anregungsmöglichkeiten – Stichwort Youtube oder Wikipedia. Das ist an sich positiv. Dem gegenüber besteht eine gewisse Versuchung, das Stoffmengenproblem auf E-Learning-Plattformen auszulagern. Eine Flut oft kommentar- und auftragslos hochgeladener Dokumente macht orientierungslos. Das hilft nicht, sondern verunsichert.

Das AKAD College ist primär im Erwachsenenbildungsbereich mit viel Selbststudium tätig. Welche Ansätze sehen Sie in diesem Kontext, um viel Stoff in wenig Zeit effektiv zu vermitteln?

Die Vorkenntnisse der Studierenden spielen hier eine zentrale Rolle. Je ausgeprägter diese vor dem Präsenzunterricht sind, umso mehr kann man aus dem Vollen schöpfen. Lehrpersonen sind deshalb gefordert, vermehrt in die «Vorbereitung der Vorbereitung» durch die Studierenden, einzeln oder kollaborativ, zu investieren. Und da bietet Blended Learning mannigfaltige Möglichkeiten. Das ganze Spektrum zu nutzen, fällt uns allerdings nicht in den Schoss. Die meisten von uns Lehrenden sind, gerade was Vorbereitungsaufträge an die Klasse anbelangt, nicht vor einer «Monokultur» gefeit. Um wirklich gut auf der Klaviatur von Blended Learning zu spielen, sollte man sich unter Lehrkräften im gleichen Fachbereich regelmässig austauschen und sich gegenseitig mit Ideen inspirieren.

Hirnforschung und Didaktik seien ein ungleiches Paar, lautet eine Ihrer Thesen. Warum ist diese Erkenntnis wichtig?

Hirnforschung steht hier für die empirische Unterrichtsforschung mit durchaus willkommenen Qualitätskriterien für Lernprozesse. Ein solches Kriterium oder Gebot lautet zum Beispiel, dass kognitive Aktivierung hilfreich ist. Dazu – so ein Schnellschluss – seien schwierige Aufgaben besonders geeignet. Ich halte gern mit einer Frage dagegen, die mein Gegenüber in einer Diskussion verblüfft: Was wissen Sie über den 12. Februar 1351? Nichts! Die Fragestellung ist eben nicht nur schwierig, sondern vor allem schwer zugänglich. Damit überhaupt eine Aktivierung in Gang kommen kann, müssen die «Dinge» etwas bedeuten, muss der Zugang zum Stoff für Studierende fassbar sein. Sich gute Aufgaben zu überlegen, geht daher nicht ohne Inhaltsbezug und (fach-)didaktische Kompetenz.

Unterrichtspraktiker schätzen vor allem die Toolbox am Ende Ihres – man darf heute sagen – Standardwerks. Wenn Sie selbst an der Uni lehren: Welche zwei Tools sind Ihre eigenen Favoriten?

Zuoberst figurieren für mich die Siebe der Reduktion. Mit ihnen kann man stofflich meines Erachtens in jedem Fach dank gemeinsamer Auseinandersetzung und individuellem Positionsbezug die Spreu vom Weizen trennen. Ebenso befolge ich konsequent die In-out-Technik. Wenn ich ein neues inhaltliches Puzzleteil aufnehme, kippe ich ein anderes heraus. Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Während wir Kolleginnen und Kollegen locker aufmuntern, «Lass doch dieses oder jenes weg», erweist sich die Trennung von liebgewonnenen Mosaiksteinen im eigenen Repertoire als schmerzlicher Moment.

Sie plädieren dafür, sich gegen die Vollständigkeitsfalle zu wehren. Das dürfte in der Praxis – nehmen wir weite Felder wie die Aufklärung in der Literatur oder die Logarithmen in der Mathematik -selbst dann anspruchsvoll sein, wenn sich Lehrpersonen schon ehr- und redlich bemüht haben, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Müsste man da den Ball nicht auf die Studierenden zuspielen?

Wir sind im Gespräch schon kurz darauf gekommen: Das Vermitteln zentraler Grundlagen in einer sinnvollen Struktur gehört, ohne in die Vollständigkeitsfalle zu tappen, ins Pflichtenheft der Lehrpersonen. Ebenso ein exemplarisches Vordringen in die Tiefe. Danach ist es in der Tat auch an den Studierenden, ihr Wissen und ihr Verständnis horizontal und vertikal durch eigene «Tiefenbohrungen» zu ergänzen.

Bleiben wir bewusst noch bei den Studierenden – dem primären Zielpublikum unserer Semesterzeitung KAKADU: Diese sind auch froh, eine Toolbox zu besitzen. Was gehört da hinein?

Es ist wertvoll, ja unabdingbar, sich im Nachgang des Unterrichts in vielfältiger Weise in den Stoff zu vertiefen; ihn zu verinnerlichen, indem man ihn «breittritt». Diese Be- und Verarbeitung über ähnliche, aber eben nicht identische Schritte garantiert eine dauerhafte Verinnerlichung des Erworbenen.

Da «verstanden» nicht «gelernt» bedeutet, sind weitere Schritte erforderlich: Darunter verstehe ich einen aktiven Prozess, zum Beispiel indem man selbst eine Aufgabe kreiert und diese löst. Oder indem man einer anderen Person den Stoff erklärt. Solche Methoden sind ein wesentlicher Bestandteil einer individuellen Lernsicherung, die gerade in der Erwachsenenbildung mit ihrer hohen Eigenverantwortlichkeit von Studierenden schöne Früchte trägt.

Zum Schluss möchte ich noch dafür plädieren, selbst Transformationsleistungen zu erfinden bzw. zu erbringen. Diese reichen von der originellen Visualisierung eines komplexen Sachverhalts über das Finden konkreter Beispiele oder Analogien bis zum Kreieren einer passenden Geschichte, die an den Stoff gekoppelt ist.